5
Renee zerrte den Schlüssel aus dem Schloss und riss die Wagentür auf. Sie sprang in den Explorer und zog die Tür zu, doch Leandro verhinderte, dass sie zufallen konnte. Renee hechtete über die Mittelkonsole und wollte zur Beifahrertür kriechen, doch Leandros Hand packte ihr Bein wie ein Fleischerhaken, und seine Finger gruben sich wie Krallen in ihre Haut. Sie strampelte verzweifelt und traf mit einem Fuß seinen Brustkorb. Als er einen Batman-artigen Uff- Laut ausstieß, wusste sie, dass sie ihm einen schmerzhaften Schlag versetzt hatte. Aber nicht schmerzhaft genug, wie ihr klar wurde, als er sie am Hosenbund ihrer Jeans packte und zurückzerrte.
Renee hielt sich mit aller Kraft am Lenkrad fest. »Lassen Sie mich los!«
»Diesmal bestimmt nicht«, erwiderte Leandro. Er löste ihre Finger vom Lenkrad und zog sie ganz aus dem Wagen. »Wir beide haben noch eine Rechnung zu begleichen.«
Renee wand sich hin und her, trat um sich und schrie. Sie rammte ihm einen Ellbogen in die Rippen und trat ihm auf die Zehen. Es nützte nichts. Es war, als würde sie mit einer Fliegenklatsche auf einen Elefanten einprügeln. Er hatte einen Arm um ihre Brust geschlungen und zerrte sie mit sich. Sie kämpfte und wehrte sich, grub ihre Fingernägel in seinen Arm und schrie. Sie wusste, dass sie verloren hatte, wenn es ihm gelang, sie in seinen Wagen zu verfrachten.
Dann ließ er sie los.
Als Renee plötzlich und unerwartet wieder frei war, wirbelte sie herum und stellte fest, dass Leandro sie keineswegs losgelassen hatte, weil er ein gutes Herz hatte. Sondern weil ein Arm um seinen Hals lag. Ein Arm, der einem gewissen Polizisten gehörte, der nicht mehr wie ein Murmeltier schlief.
Der schockierte Ausdruck in Leandros Gesicht wich schnell einer hässlichen Fratze, wie sie ansonsten nur Ringkämpfer zuwege brachten. Er stieß mit dem Ellbogen in Johns Rippen. John schnappte keuchend nach Luft und wurde zurückgeworfen. Nun konnte Leandro sich umdrehen und ihm einen gezielten Hieb mit der Faust ins Gesicht verpassen. John krümmte sich, dann konterte er mit einem rechten Haken, der Leandros Nase zertrümmerte, ihn herumwirbelte und mit dem Gesicht voran zu Boden warf. Als er mit einem schmerzvollen Schrei und einer Salve unanständiger Flüche im Dreck landete, entschied Renee, dass sie nicht bis zur zweiten Runde warten wollte. Es wurde Zeit, dass sie sich aus dem Staub machte.
Sie sprang in den Explorer, warf ihre Schuhe vor den Beifahrersitz und dankte ihrem Schicksal, dass sie die Voraussicht besessen hatte, die Autoschlüssel festzuhalten. Sie verriegelte die Türen, ließ dann den Motor an und blickte sich um. John hatte in der Polizeischule offenbar gut aufgepasst. Er hockte nun auf Leandros Rücken, presste die Knie gegen die Schulterblätter seines Kontrahenten und hatte ihn im Nacken gepackt, um seine bereits in Mitleidenschaft gezogene Nase noch tiefer in den Waldboden zu rammen. Leandro wand sich unter ihm wie ein zertretener Käfer. Es war ein wunderbarer Anblick, und unter normalen Umständen hätte sie jeden Preis gezahlt, um ihn aus der ersten Reihe verfolgen zu dürfen. Bedauerlicherweise musste sie sich um dringendere Angelegenheiten kümmern, zum Beispiel so schnell wie möglich von hier verschwinden.
Sie setzte mit dem Wagen im Halbkreis zurück, ohne auf das Geschrei ihres schlechten Gewissens zu achten. Es versuchte ihr bewusst zu machen, dass John ihr zweifellos nur aus dem Grund zu Hilfe gekommen war, weil er Leandro für ihren brutalen Freund hielt. Er wollte sie vor ihm schützen, und sie dankte ihm, indem sie sein Auto klaute.
Nein. Ich klaue es nicht. Ich borge es mir aus.
Sie trat aufs Gaspedal und raste über den dunklen Forstweg davon. Sie wollte so viele Kilometer wie möglich zwischen sich und die Hütte bringen. Früher oder später würden der verrückte Kopfgeldjäger und der wütende Polizist aufhören, sich zu prügeln und über sie reden. Und sobald sie das taten, würden sie sich nicht mehr gegenseitig, sondern mit vereinten Kräften ihr das Leben schwer machen.
Obwohl John vorübergehend die Oberhand gewonnen hatte, war er sich keineswegs sicher, dass er King Kong wirklich besiegt hatte. Unter ihm tobte der Kerl wie ein Vulkan, der kurz vor dem Ausbruch stand.
»Lassen Sie mich aufstehen, Sie Arschloch!«
John war leicht schwindlig von dem Schlag, den der Kerl ihm verpasst hatte, aber allmählich gelang es ihm wieder, genügend Luft zu bekommen. Er schob sein Knie noch ein Stück weiter den Rücken hinauf.
»Ich bin Polizist!«, brüllte er ihn an. »Und Sie bleiben, wo Sie sind!«
Der Kerl erstarrte. »Polizist? Sie sind Polizist?«
John empfand eine tiefe Genugtuung. Da gab es offenbar jemanden, der Frauen verprügelte und nicht damit gerechnet hatte, dass sich das Gesetz in seine Angelegenheiten einmischte. Dumm gelaufen, was?
»Sie sind Polizist, und Sie lassen die Frau entkommen?«
John erstarrte. Was meinte der Kerl damit?
»Ich bin Kopfgeldjäger, Sie Idiot! Sie ist einen Haufen Geld wert, und Sie haben alles vermasselt!«
Die Worte klangen etwas dumpf, da das Gesicht des Kerls immer noch im Dreck steckte. Aber John war sich ziemlich sicher, dass er gesagt hatte, er sei Kopfgeldjäger. Wenn er die Wahrheit sagte, bedeutete das ... Oh, mein Gott!
»Gegen Alice liegt ein Haftbefehl vor?«
»Alice? Dass ich nicht lache! Sie heißt Renee Esterhaus. Sie wird wegen bewaffneten Raubüberfalls gesucht. Und ich würde sie in diesem Moment nach Tolosa zurückbringen, wenn Sie nicht beschlossen hätten, den einsamen Rächer zu spielen.«
Bewaffneter Raubüberfall? Die hübsche kleine Blondine mit den großen blauen Augen? John war wie gelähmt. Er wollte es einfach nicht glauben. Als Polizist hatte er schon viele Dinge gesehen, die dem gesunden Menschenverstand widersprachen, aber das übertraf alles andere. »Das kann nicht sein.«
»Sie wurde mit der Beute und der Waffe geschnappt, und die Besitzerin des Supermarkts - die übrigens von ihr angeschossen und verwundet wurde - hat sie bei einer Gegenüberstellung wiedererkannt.«
»Sie hat auf jemanden geschossen?«
»Nur eine Fleischwunde. Aber sie hat nicht gezögert, die Waffe einzusetzen.«
John erhob sich ein wenig, damit er dem Kerl die Brieftasche aus der Hose ziehen konnte. Er klappte sie auf. Max Leandro. Bail Enforcement Officer.
»Sind Sie jetzt zufrieden?«, knurrte Leandro. »Und würden Sie mich jetzt vielleicht aufstehen lassen?«
John ließ ihn frei. Leandro kam auf die Beine und hielt sich die blutende Nase. Er riss John seine Brieftasche aus den Händen und steckte sie wieder ein. »Das war großartige Arbeit, Sie Super-Polizist! Während Sie damit beschäftigt waren, mich zusammenzuschlagen, ist die Frau mit Ihrem Wagen abgehauen.«
Johns Kopf fuhr herum. Sein Wagen war nirgendwo zu sehen. Er starrte auf die Straße und konnte nicht fassen, was soeben geschehen war. Er hatte sich auf Leandro gestürzt, weil er geglaubt hatte, er sei ihr brutaler Freund. Er wollte sie vor ihm beschützen! Und während er seine Kräfte mit einem miesen Kopfgeldjäger maß, hatte Alice - Renee sich mit seinem Wagen aus dem Staub gemacht.
Sein Schock verwandelte sich in Ärger, der kurz darauf in den brennenden Wunsch umschlug, diese Frau in die Finger zu bekommen, die nur Lügen von sich gegeben hatte, seit sie ins Diner spaziert war. Das Miststück, das einen Supermarkt überfallen, auf einen Menschen geschossen und sich der Verhaftung entzogen hatte. Das einen Polizisten und einen tausend Pfund schweren Gorilla dazu verleitet hatte, sich gegenseitig besinnungslos zu prügeln.
Und das dafür gesorgt hatte, dass dieser Polizist jetzt wie ein Volltrottel dastand.
»Warten Sie!« John flitzte zurück in die Hütte und schnappte sich seine Waffe und seine Brieftasche. Dann lief er zu Leandro zurück. »Geben Sie mir Ihre Schlüssel.«
»Meine Schlüssel? Ich werde den Teufel tun und Ihnen ...«
»Ich will meinen Wagen wiederhaben. Wo sind Ihre Schlüssel?«
»Kommt nicht in Frage. Wenn Sie die Frau abliefern, verliere ich meine Prämie.«
»Die können Sie behalten. Ich will nur meinen Wagen wiederhaben.«
Leandro starrte ihn finster an.
»Geben Sie mir die Schlüssel! Und zwar sofort!«
Widerstrebend ließ er die Schlüssel in Johns Hand fallen. Dann rannte John zum Wagen, gefolgt von Leandro. Als sich John hinters Lenkrad setzte, drang ihm ein beißender Geruch in die Nase. Er drehte sich um und betrachtete die Rücksitze. Sie sahen aus wie das Innere einer Müllverbrennungsanlage. »Meine Fresse!«
»Sie ist eine Wahnsinnige«, erklärte Leandro nur und schlug die Beifahrertür zu. Er hob ein paar zusammengeknüllte Servietten vom Boden auf und drückte sie sich auf die blutende Nase. »Völlig durchgeknallt.«
Mit einem Mal wurde John klar, was geschehen sein musste. »Sie hat Ihren Wagen angezündet?«
»Ich will kein Wort mehr darüber hören«, murmelte Leandro.
In diesem Moment erkannte John, dass dies das rauchende Fahrzeug gewesen war, das er beim Verlassen von Harleys Restaurant gesehen hatte. Jetzt wusste er auch, wie Renee es angestellt hatte, Leandro zu entkommen. Gütiger Himmel - gab es irgendetwas, das sie nicht tun würde?
John ließ den Wagen an, trat das Gaspedal durch und fuhr los. Die Scheinwerfer schnitten durch die Nacht. Er fuhr so schnell, wie es die unbefestigte, kurvenreiche Straße ermöglichte. Im dichten Wald riss er das Lenkrad nach links und rechts und suchte nach roten Rücklichtern. Ihr Vorsprung konnte kaum mehr als drei Minuten betragen, aber jenseits der Scheinwerfer war nur dunkle Nacht.
»Scheiße«, sagte Leandro. »Wo ist sie?«
»Ich weiß es nicht. Eigentlich hätten wir sie inzwischen einholen müssen.«
»Dann fahren Sie schneller!«
»Wollen Sie, dass ich Ihre Schrottkiste um einen Baum wickle?«
»Ich will nur diese Frau!«
»Ich fahre schon so schnell ich kann.«
Leandro schnaufte verächtlich, dann tauschte er die blutgetränkte Serviette gegen eine andere aus. »Verraten Sie mir eins«, sagte er, während sich ein spöttischer Tonfall in seine Stimme schlich. »Offenbar hat sie Ihnen nicht verraten, wer sie wirklich ist. Wie hat sie es angestellt, dass Sie sie in Ihrem Wagen mitnahmen? Hat Sie Ihnen ein unwiderstehliches Angebot gemacht?«
Als John nicht antwortete, verzog sich Leandros Gesicht zu einem anzüglichen Grinsen. »Ich wette, das alte Rein-raus-Spiel. Richtig?«
John kochte still vor sich hin und verfluchte sich für seine Leichtgläubigkeit. Und weil Leandro Recht hatte. Sie war nicht die erste Frau, die versucht hatte, sich mit ihrem Körper von der Verhaftung freizukaufen. Aber es war das erste Mal, das er auf diesen Köder hereingefallen war.
»Nicht, dass ich kein Verständnis dafür hätte«, fuhr Leandro fort. »Ich meine, die Kleine ist wirklich ein scharfes Ding, nicht wahr?« Er schien diesen Gedanken eine Weile weiterzuverfolgen. »Wissen Sie, ich habe nicht oft mit flüchtigen Frauen zu tun. Aber ich möchte wetten, dass die meisten alles tun würden, um sich vor dem Gefängnis zu retten.«
John stellte sich die widerwärtigen Praktiken vor, die Leandro möglicherweise als Gegenleistung erwarten würde, und seine Hände klammerten sich fester um das Lenkrad.
»Wenn ich genauer darüber nachdenke, muss ich sagen, dass sie genau der Typ Frau ist, die ich gerne mal flachlegen würde, Blondes Haar, blaue Augen, ein süßer kleiner Hintern ... und nicht zu vergessen ihre Lippen!« Leandro stieß einen leisen Pfiff aus. »Ich kannte mal ein Mädchen, das solche Lippen hatte. Glauben Sie mir, sie konnte den Kronkorken von einer Bierflasche saugen. Wenn sie mit einem fertig war, kam man sich vor, als wäre man von einem Tanklaster überfahren worden. Ja, vielleicht würde es sich sogar lohnen, das Geld sausen zu lassen, um nur einmal zu spüren, wie sich diese hübschen Lippen um meinen ...«
John trat auf die Bremse. Leandro schoss nach vorn und wäre beinahe mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe geknallt, was seiner Nase den Rest gegeben hätte. Als der Wagen zum Stehen kam, wurde er mit ähnlicher Wucht gegen die Kopfstütze geschleudert. Im nächsten Moment hielt John den Kragen seines schmutzigen Hemds in der geballten Faust und zog ihn halb über die Konsole zu sich heran. Der bloße Gedanke, dass Renee in Sichtweite der lüsternen Augen Leandros kommen könnte, ließ sein Blut aufkochen.
»Wenn Sie es auch nur wagen, Sie zu berühren, schwöre ich Ihnen bei Gott, dass ich Sie wegen Vergewaltigung festnehme. Haben Sie mich verstanden?«
Leandro blieb locker und grinste nur. »Jawohl, Herr Wachtmeister! Es ist also völlig in Ordnung, wenn Bullen unanständige Sachen mit entflohenen Tatverdächtigen anstellen, aber Kopfgeldjäger dürfen sich so was nicht erlauben. Habe ich es richtig verstanden?«
»Ich wusste nicht, dass sie eine Tatverdächtige ist. Und ich habe nichts mit ihr angestellt! Und Sie werden es auch nicht tun!«
Leandro verdrehte die Augen. »Scheiße! Darf man nicht einmal laut denken? Glauben Sie wirklich, ich würde mir so viel Geld durch die Lappen gehen lassen, nur um eine Nummer zu schieben?«
John stieß Leandro angewidert zurück. Aber es war gar nicht Leandro, der ihn anwiderte. Was war nur los mit ihm? Warum in aller Welt legte er sich so sehr für Renee Esterhaus ins Zeug? Sie war kein hilfloses Opfer, und es wurde Zeit, dass er diese Tatsache in seinen Schädel hineinbekam, auch wenn sie noch so süß und unschuldig aussah. Sie war eine Verbrecherin, die einen Raubüberfall begangen und ohne Zögern eine Kugel auf die Ladeninhaberin abgefeuert hatte. Und sie war eine Autodiebin. Eine Kriminelle, nicht mehr und nicht weniger. Wenn sie unschuldig wäre und noch nie einen Supermarkt ausgeraubt hätte, wäre sie nicht geflüchtet, und dann würde Leandro nicht davon fantasieren, sich mit ihrer Hilfe ein wenig Entspannung zu verschaffen. Sie war selbst schuld, dass sie in Schwierigkeiten steckte, und es wurde Zeit, dass sie die Konsequenzen zu spüren bekam.
John gab wieder Gas. Wenige Minuten später verließen sie den Wald und erreichten den Highway, zwei oder drei Kilometer von Harleys Laden entfernt. Die Straße war leer, Von Renee war nichts zu sehen. Und John hatte keine Ahnung, wohin sie gefahren sein könnte.
Wie ging es jetzt weiter? Wenn sie sich auf die Suche machten, kurvten sie möglicherweise irgendwo durch die Landschaft, während Renee in eine ganz andere Richtung davonbrauste. Es wäre ihm lieber, wenn er es war, der sie fasste, weil er dann seinen Wagen wiederbekam, ohne sich mit umständlichem Papierkram auseinander setzen zu müssen. Aber es sah nicht danach aus, dass dieser Fall eintrat. »Verdammt«, brummte John. »Inzwischen könnte sie sonstwo sein. Haben Sie eine Ahnung, wohin sie wollte, als Sie sie geschnappt haben?«
»New Orleans.«
»Dann ist sie wahrscheinlich dorthin unterwegs. Ich werde die örtliche Dienststelle und die Highway-Polizei informieren. Wenn ich eine Beschreibung meines Wagens durchgebe, wird man sie früher oder später festnehmen.«
»Ja, das ist ein großartiger Plan, Super-Bulle. Sie kriegen Ihren Wagen wieder, aber ich muss auf das Kopfgeld verzichten, weil nicht ich, sondern die Polizei sie schnappt.«
»Das Leben ist manchmal ungerecht, Kumpel.«
»Das alles ist nur Ihre Schuld. Wir hätten sie längst dingfest gemacht, wenn Sie nicht im Schneckentempo durch den Wald gekurvt wären.«
»Ich bin achtzig auf einer Schotter Straße gefahren!«
»Dann muss sie mit hundert Sachen gefahren sein, weil ich sie nirgendwo sehe. Oder können Sie sie mit Ihren Adleraugen irgendwo erspähen, Super-Bulle?« Leandro schnaufte. »Wahrscheinlich haben Sie ausgerechnet an dem Tag, als es um die Verfolgung von Fluchtfahrzeugen ging, die Akademie geschwänzt.«
Etwa hundert heftige Erwiderungen kamen John in den Sinn, aber er biss sich auf die Zunge. Warum sollte er seine Zeit damit verschwenden, sich mit diesem Kerl zu streiten, während es eigentlich um Renee ging? Verdammt, vielleicht war es sogar gut, dass er sie nicht eingeholt hatte. Wenn er bereits in die Wildnis von Texas verbannt wurde, weil er einen Handtuchspender schrottreif geschlagen hatte, konnte er nur spekulieren, was Daniels mit ihm anstellte, wenn er einer durchtriebenen kleinen Verbrecherin an die Gurgel ging.
Leandro starrte auf die blutigen Servietten in seiner Hand. Als er bemerkte, dass seine Nase immer noch blutete, schaltete er die Innenbeleuchtung ein und klappte die Sonnenblende herunter, um in den Spiegel zu sehen. Auf seinem deutlich veränderten Gesicht breitete sich ein Ausdruck des Entsetzens aus. Er stöhnte gequält auf.
»Sie Mistkerl! Sie haben mir die Nase gebrochen!«
John konnte nicht ganz nachvollziehen, warum Leandro ein Problem damit hatte. Wenn man bereits mit einem solchen Gesicht gestraft war, kam es darauf auch nicht mehr an. »Sie wird wieder zusammenwachsen.«
»Zusammenwachsen? Wie soll das gehen? In meinem Gesicht ist nichts mehr an der Stelle, wo es hingehört!«
John hatte keine Lust, sich Leandros Gejammer länger anzuhören. Vor allem nicht, weil er spürte, wie sein eigenes Gesicht immer mehr anschwoll.
»Ich werde Sie verklagen«, sagte Leandro. »Wegen Körperverletzung. Wenn die Geschworenen sehen, wie Sie mich entstellt haben, können Sie einpacken!«
John hätte am liebsten erwidert, dass bereits Mutter Natur viel schlimmere Sachen mit ihm angestellt hatte.
»In Winslow gibt es ein Krankenhaus«, sagte Leandro. »Bringen Sie mich sofort hin.«
»Hören Sie doch endlich auf ...«
»Ich gehe zu einem Arzt, Sie informieren die Polizei.«
John atmete tief durch. Es war ihm unbegreiflich, wie sich seine Situation innerhalb weniger Stunden auf so dramatische Weise hatte verändern können. Es hatte mit der verlockenden Aussicht auf ein sexuelles Abenteuer mit einer schönen Frau begonnen, und nun musste er sich mit dem hässlichsten Mann auf Erden herumärgern. Mit einem resignierten Seufzer bog er auf den zweispurigen Highway ein und nahm Kurs auf Winslow.
Renee stellte Johns Explorer auf einem McDonald‘s-Parkplatz in Winslow ab. Ihr Herz klopfte noch immer wie verrückt. Während der Fahrt durch den Wald hatte sie ständig damit gerechnet, Scheinwerfer im Rückspiegel zu sehen, aber da alles dunkel geblieben war, konnte sie nur vermuten, dass John und Leandro keine Ahnung hatten, wohin sie gefahren sein könnte.
Der Wagen murmelte leise im Leerlauf. Sie nahm einen tiefen, erfrischenden Atemzug, löste die verkrampften Hände vom Lenkrad und legte sie in den Schoß. Dann schob sie die Jazz-Kassette wieder in den Recorder und versuchte sich zu beruhigen, damit sie nachdenken konnte. Anscheinend hatte sie sich einen kleinen Vorsprung verschafft, aber wie ging es jetzt weiter?
Okay. Als Allererstes musste sie Johns Wagen loswerden. Wenn sie ihn abgehängt hatte, würde er ihn zweifellos bei der örtlichen Polizei als gestohlen melden. Aber sie brauchte einen Plan, bevor sie diesen fahrbaren Untersatz aufgab. Irgendein Versteck oder eine andere Transportmöglichkeit, mit der sie die Stadt so weit wie möglich hinter sich lassen konnte.
Sie wollte auf jeden Fall ins Motel zurückkehren, wo Leandro sie aufgegriffen hatte, um ihre Sachen zu packen und abzuwarten, bis sie morgen früh mit ihrem eigenen Wagen weiterfahren konnte. Aber wenn Leandro auf die Idee kam, sich dort umzuschauen, begann der Ärger von vorn.
Vielleicht sollte sie lieber zum Busbahnhof gehen. Mit dem Geld, das sie sich von John genommen hatte, konnte sie sich bestimmt eine Fahrkarte nach New Orleans leisten. Allerdings hatte sie keine Möglichkeit, ihr Aussehen zu verändern, und John würde möglicherweise am Busbahnhof nach ihr suchen. Wenn er die Highway-Polizei informierte, würde man sie schnappen, bevor der Bus die Grenze zu Louisiana überquert hatte.
Das Dümmste, was sie jetzt tun konnte, wäre, mit dem Wagen in Richtung New Orleans zu fahren. Sie wäre viel zu leicht zu finden. Sie presste die Augenlider fest zusammen und drängte ihre Tränen zurück. Wie in aller Welt war sie nur in diesen Schlamassel hineingeraten? Sie war müde, hatte Hunger und Todesangst, und sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen.
Dann wehte der Duft von Hamburgern und Pommes durch den Wagen.
Essen.
Sofort lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Nach kurzer Zeit hatte der Teil ihres Gehirns, der für die regelmäßige Nahrungszufuhr verantwortlich war, den Teil ihres Gehirns überredet, der auf ihre Sicherheit und Unversehrtheit achtete. Schließlich konnte sie genauso gut in der Warteschlange des Drive-ins weiter nachdenken. Sie setzte den Wagen wieder in Bewegung und hielt hinter einem roten Minivan an, der bis zur Grenze des Fassungsvermögens mit einer Horde Teenager vollgestopft war.
Wenig später ging es ein paar Meter voran, und der Minivan blieb an der Sprechanlage stehen, wo man seine Bestellung abgeben konnte. Renee fuhr mit dem Explorer langsam ein Stück vor und wartete. Hinter ihr reihten sich zwei weitere Fahrzeuge in die Schlange ein.
Ihr Blick fiel auf Johns Handy. Sie dachte an ihre Freundin Paula, die wahrscheinlich der einzige Mensch auf diesem Planeten war, der ihr glauben würde, dass sie unschuldig war. Auf einmal fühlte sie sich so einsam, dass sie am liebsten losgeheult hätte.
Sie folgte einem spontanen Drang, nahm das Handy und wählte Paulas Nummer. Es klingelte einmal, zweimal. Als es schließlich zu einer Verbindung kam und sie die Stimme ihrer Freundin hörte, schloss Renee vor Erleichterung die Augen.
»Paula. Ich bin‘s.«
Paula schnappte hörbar nach Luft. »Renee! Mein Gott! Wo bist du? Immer noch in diesem Motel? Ist dein Auto repariert?«
»Nein. Mir ist etwas Furchtbares passiert. Ein Kopfgeldjäger hat versucht, mich nach Tolosa zurückzubringen. Ein großes, hässliches Monstrum ...«
Paula keuchte. »Er hat dich gefunden?«
Renee erstarrte. »Was?«
»Ein großer Kerl mit Glatze, Tattoos, sieht aus wie ein Profiringer?«
»Ja ...?«
»Er war hier. Er hat in meiner Wohnung nach dir gesucht.«
»Woher wusste er, dass wir uns kennen?«
»Keine Ahnung. Ich glaube, er hat einfach nur in unserem Apartmentkomplex herumgeschnüffelt. Irgendjemand scheint ihm gesagt zu haben, dass wir Freundinnen sind.«
»Und du hast ihm gesagt, dass ich in diesem Motel bin?«
»Nein! Natürlich nicht! Ich habe keine Ahnung, wie er dich gefunden hat!«
»Hast du irgendwem erzählt, wo ich war?«
Paula zögerte. »Nun ja ... nur Tom ...«
»Tom? Du hast es Tom erzählt?«
»Er hat diesem Kerl nicht gesagt, wo du bist! Ich schwöre es! So etwas würde er dir niemals antun!«
Renee hätte am liebsten laut geschrien. Seit Paula dem sportlichen Typen zum ersten Mal begegnet war, hatte sie sich von seinem guten Aussehen blenden lassen und nicht bemerkt, dass der Kerl genauso mit Frauen umging, wie die meisten Männer Bier konsumierten. Und sie verschloss auch die Augen vor der Tatsache, dass er ihr nach wie vor zweitausend Dollar schuldete, die sie ihm geliehen hatte, als er im vergangenen Sommer keine Arbeit gehabt hatte.
Im Gegensatz zu Tom war Paula einfach nur nett. Sie sah durchschnittlich aus, und mit ihrem dunkelbraunen Haar, ihrem runden Gesicht und etwa fünfzehn überflüssigen Pfunden, die sie anscheinend nicht mehr loswurde, war sie eine jener Frauen, die man als »nett« bezeichnete, weil es mit dem guten Aussehen etwas haperte. Allerdings war sie wirklich eine nette Person, die noch etwa tausend weitere angenehme Eigenschaften hatte. Jeder vernünftige Mann musste eigentlich froh über eine solche Frau sein. Aber Paula glaubte einfach nicht an sich und landete immer wieder bei Verlierertypen. Tom war zufällig ein gut aussehender Verlierertyp - und ein sehr geschickter Lügner. Und früher oder später würde er ihr das Herz brechen.
»Tom mag dich«, fuhr Paula fort. »Und er versteht nicht, warum du ihn nicht magst. Ich verstehe auch nicht, warum du ihn nicht magst.«
»Weil er dich betrügt, Paula! Wach endlich auf!«
»Tom sagt, dass es da irgendein Missverständnis geben muss, dass du vielleicht etwas falsch verstanden hast ...«
»Wie bitte? Habe ich vielleicht falsch verstanden, was die Prozession der Frauen zu bedeuten hat, die während der Nachtstunden durch seine Wohnung marschiert? Was soll ich daran falsch verstanden haben? Ich habe es gesehen, Paula! Ich schwöre bei Gott...«
Renee holte tief Luft. Jetzt war eigentlich nicht der günstigste Zeitpunkt, um über Paulas Liebesleben zu diskutieren.
»Es tut mir Leid, Paula. Wirklich. Ich habe nicht das Recht, so mit dir zu reden.«
»Schon gut. Schließlich hattest du in letzter Zeit ziemlichen Stress. Das wird es sein. Tom hat dem Kerl nicht gesagt, wo du bist. Glaub mir.«
Renee seufzte schwer. Vielleicht hatte Paula Recht. Vielleicht hatte Leandro nur einen sechsten Sinn oder etwas in der Art. Ein Bluthund, der direkt aus der Hölle kam, musste einfach ein gutes Gespür haben.
»Wie bist du ihm entkommen?«, fragte Paula.
Renee schloss die Augen, als sie an ihren Versuch dachte, sich als Brandstifterin zu betätigen. »Das spielt jetzt keine Rolle. Ich konnte ihm entwischen, und jetzt bin ich mit dem Wagen eines Polizisten unterwegs ...«
»Du fährst einen Polizeiwagen?«
»Nein. Sein privates Auto. Er weiß nicht, dass ich es mir nur ausgeborgt habe, also muss ich es schnell wieder loswerden, damit er nicht ...«
»Einen Moment. Erzähl mir etwas mehr über diesen Polizisten.«
Renee seufzte. Er ist einfach umwerfend und kann fantastisch küssen. Und wenn er noch einmal in meine Nähe kommt, bin ich tot.
»Später. Im Augenblick wollte ich ... wollte ich nur ...« Tränen stiegen ihr in die Augen. »Ich glaube, ich wollte einfach nur eine freundliche Stimme hören.«
»Wohin fährst du jetzt? Willst du immer noch nach New ...?« Paula verstummte plötzlich. »Nein - sag es mir nicht! Jemand könnte mein Telefon abhören.« Sie keuchte. »Vielleicht haben sie dadurch herausgefunden, wo du warst. Du hast mich von diesem Motel aus angerufen.«
Darüber hatte Renee noch gar nicht nachgedacht. »Glaubst du wirklich? O Gott - könnte man auch diesen Anruf zurückverfolgen?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht wäre es besser, wenn du dich auf den Weg machst. Ruf mich wieder an, wenn du dich sicherer fühlst, ja? Damit ich weiß, wie es dir geht, okay?«
»Ja. Okay. Mach ich.«
Paula hängte ein. Renee behielt das Handy noch einen Moment am Ohr und lauschte auf das Tuten. Dann legte sie das Telefon weg, während ihr wieder Tränen in die Augen stiegen. Selbst wenn sie bis New Orleans kam, ohne geschnappt zu werden, selbst wenn sie eine neue Identität annahm, eine Arbeit bekam, einen netten Mann kennen lernte und heiratete und wieder so etwas wie ein normales Leben führte - es würde trotzdem eine Lüge bleiben.
Sie würde für immer auf der Flucht sein.
In ihrem Bauch breitete sich ein leeres Gefühl aus, das nichts mit Hunger zu tun hatte. Es war schon verdammt schwer gewesen, sich selbst endlich als normalen Menschen zu akzeptieren, nachdem sie von ihrer alkoholabhängigen Mutter während ihrer gesamten Kindheit zu hören bekommen hatte, dass sie eine vollkommen nutzlose Kreatur war. Sie hatte einen großen Teil ihres Lebens ohne Selbstwertgefühl verbracht, so dass es ein übermenschlicher Kampf für sie gewesen war, sich selbst vom Gegenteil zu überzeugen.
Aber dann hatte sie sich in Tolosa Schritt für Schritt eine eigene Existenz aufgebaut. Sie hatte ein Leben geführt, wie sie es sich als Kind und Jugendliche niemals hatte vorstellen können, ein ordentliches, ehrenwertes Leben mit einem guten Job, guten Freunden, einer anständigen Wohnung. Und sie hatte die Fähigkeit erlangt, anderen Leuten in die Augen zu schauen und sich nicht vor dem zu fürchten, was sie sahen, wenn sie sie betrachteten.
All das war jetzt vorbei.
Paula Merani legte das Telefon auf den Tisch zurück und lehnte sich mit dem Kopf gegen das Rückenteil des Sofas. Sie hatte keine Ahnung, was mit Renee los war. Sie wusste nur, dass es nicht gut klang und dass sie sich große Sorgen zu machen schien. Paula kam sich so hilflos vor, weil sie nur herumsitzen und nichts tun konnte, um ihr irgendwie zu helfen.
»Das war Renee, nicht wahr?«
Paulas Kopf fuhr herum. Tom stand in der Tür und stützte sich mit einer Hand am Rahmen ab. Er trug nur eine abgerissene Levi‘s, und selbst wenn der Atomkrieg ausgebrochen wäre, hätte Paula nicht aufgehört, ihn anzustarren. Er war groß, hatte schlanke und glatte Muskeln, grüne Augen und flachsblondes Haar, das wie Gold schimmerte.
»Ach, Tom. Renee hatte Ärger mit diesem schrecklichen Mann! Der gestern Abend hier war.«
»Der Kopfgeldjäger?«
»Ja. Ich weiß nicht, wie er sie gefunden hat, aber er hat sie gefunden. Irgendwie hat sie es geschafft, ihm zu entwischen, aber ich bin mir nicht sicher, was jetzt geschieht.« Sie seufzte. »Wenn sich nur aufklären würde, wer wirklich den Supermarkt überfallen hat, könnte sie wieder nach Hause kommen.«
»Ich glaube kaum, dass das geschehen wird.«
»Aber du glaubst doch, dass sie unschuldig ist, oder?«
»Natürlich. Aber sämtliche Beweise sprechen gegen sie.«
Paula wusste, was er meinte. Vor Gericht hätte Renee wahrscheinlich keine Chance. Aber das wollte Paula nicht hören. Sie wollte die Wahrheit nicht sehen, sondern nur daran glauben, dass alles gut werden würde.
»Wo ist sie jetzt?«, fragte Tom. »Immer noch in diesem Motel?«
»Nein. Ich weiß nicht, was sie gerade macht. Ich weiß nur, dass sie sehr aufgeregt klang.«
Tom strich Paula eine Haarsträhne von der Wange und zog sie an sich, um ihren Kopf an seine Schulter zu legen. Sie musste sich jeden Tag von neuem zwicken, bevor sie glauben konnte, dass ein so hinreißender Mann wie Tom tatsächlich an ihr interessiert war. In der Highschool war sie immer das Mädchen gewesen, das für alle der beste Kumpel, aber für keinen Jungen eine feste Freundin gewesen war. Typen wie Tom hatten sie nie eines zweiten Blicks gewürdigt.
Paula wusste nicht, warum Renee ihn nicht mochte, abgesehen von ihren falschen Vorstellungen, was die anderen Frauen betraf, mit denen er sich angeblich traf. Er war ganz anders als sein Cousin Steve, aber sie glaubte nicht, dass Renee das jemals einsehen würde.
Vor neun Monaten hatten Tom und Steve ein Apartment bezogen, nicht weit von Renees Wohnung entfernt. Wenige Monate vorher hatten sie noch zusammen in einer Band gespielt. Irgendwann hatten sie erkannt, dass sie mit ihren Auftritten niemals über die Clubs von Tolosa, Texas, hinauskommen würden, und die Gruppe aufgelöst. Tom hatte sich Arbeit gesucht und auf das Junior College vorbereitet, doch Steve war in der Clubszene geblieben, schlug sich mit Gigs als DJ durch und verspielte den größten Teil seiner Gage.
Dann hatte Renee eine Party veranstaltet und beide eingeladen. Mindestens ein halbes Dutzend Frauen hatten an diesem Abend nur Augen für Tom gehabt, doch es war Paula gewesen, die er später in sein Apartment mitgenommen hatte. Er hatte für sie Gitarre gespielt und mit seiner unglaublichen Tenorstimme alberne Liebeslieder gesungen. Wenn sie nicht längst in ihn verknallt gewesen wäre, hätte er sie damit rumgekriegt.
Ungefähr zur gleichen Zeit waren Renee und Steve zusammengekommen. Sie hatten sich nach wenigen Monaten getrennt, aber Paulas Beziehung zu Tom war immer intensiver geworden. Anfangs hatte sie ständig auf den großen Knall gewartet, dass Tom aufwachte und erkannte, dass er mit einer völlig durchschnittlichen Frau ging, während er jederzeit eine viel aufregendere haben konnte. Aber es war nicht geschehen. Und jetzt, mehrere Monate später, konnte sie ihm allmählich glauben, wenn er sagte, dass er sie wirklich liebte.
Tom war ehrgeizig und strebte nach Höherem, ganz im Gegensatz zu Steve. Warum wollte Renee das nicht sehen? Okay, Tom war einige Monate arbeitslos gewesen, und sie hatte ihm finanziell unter die Arme gegriffen, aber da er aufs College ging und sich weiterbilden wollte, hatte sie es gerne für ihn getan. Eines Tages würde er ihr alles zurückzahlen. Schließlich liebten sie sich!
»Tom?«
»Ja?«
»Hast du schon darüber nachgedacht, ob du bei mir einziehen willst? Wenn du dein Apartment aufgibst, könntest du ein paar Hunderter pro Monat sparen. Ich weiß, dass es für dich schwierig geworden ist, die Miete zusammenzubekommen, seit Steve ausgezogen ist.«
»Nein. Ich weiß, dass es billiger für mich wäre, die Wohnung aufzugeben, aber das kann ich einfach nicht machen.« Er schüttelte den Kopf. »Verdammt, ich hasse es, dir Geld zu schulden. Es ist nur so, dass ... es ist nicht einfach für mich, wieder auf die Beine zu kommen. Das ist alles.«
»Schon gut. Ich weiß, dass du mir das Geld zurückzahlen wirst, wenn du es hast.«
»Ich habe das bestimmte Gefühl, dass ich schon sehr bald zu Geld kommen könnte. Und dann ...«
»Ich sagte doch, dass du dir deswegen keine Sorgen machen musst. Ich werde dir helfen, solange du Unterstützung brauchst.«
Tom nahm sie in die Arme, küsste ihr Haar und drückte sie an sich. »Paula?«
»Ja?«
»Liebst du mich?«
Sie löste sich von ihm und starrte ihn an. »Was für eine dumme Frage! Natürlich liebe ich dich!«
»Renee mag mich nicht. Ich fürchte, dass du eines Tages auf sie hören könntest.«
»Sie kennt dich einfach nicht so gut wie ich. Das ist alles.«
»Aber du weißt nicht alles über mich«, sagte er mit einem seltsamen Gesichtsausdruck, als würde er in weite Fernen schauen. »Vielleicht liebst du mich nicht mehr, wenn du es weißt.«
»Ganz gleich, was du tust, es gibt nichts, das etwas an meinen Gefühlen für dich ändern würde.«
»Ich weiß, dass du inzwischen so denkst, aber ...« Tom atmete nervös aus. »Da ist etwas, von dem ich dir erzählen muss.«
Trotz all seiner Liebesbeteuerung hatte Paula plötzlich ein ungutes Gefühl. Jetzt war es so weit. Daran gab es keinen Zweifel. Jetzt kam der Augenblick, wo er sagen würde: Es war schön mit dir; aber jetzt ist es vorbei. Du hast doch nicht etwa gedacht, dass es für immer sein würde, oder?
»Tom«, sagte sie. »Sag mir die Wahrheit. Bitte. Du triffst dich doch nicht mit einer anderen Frau, oder?«
»Natürlich nicht!« Er nahm ihr Gesicht in die Hände und blickte ihr tief in die Augen. »Renee täuscht sich in mir. Ich schwöre es dir. Außer dir gibt es niemanden, Paula. Niemanden.«
»Was ist es dann?«, fragte Paula.
Er starrte sie eine ganze Weile an, und seine grünen Augen übten mehr Macht über sie aus als das Pendel eines Hypnotiseurs.
»Vergiss es«, sagte er schließlich. »Es ist nicht wichtig.«
Er küsste sie. Es war ein süßer, zärtlicher Kuss, der bald tiefer und intimer wurde. Sie schlang die Arme um seinen Hals, während er sie aufs Sofa drückte. Es erstaunte sie, dass seine Berührung nach all den Monaten immer noch genauso aufregend wie zu Anfang war.
Ja, er hatte sich ziemlich viel Geld von ihr geliehen, aber er hatte versprochen, alles zurückzuzahlen. Renee sagte ständig, dass er sie nur ausnutzte, doch Paula wusste, dass es nicht so war. Und wenn sie jemals so denken würde, wäre daran nur ihre eigene Unsicherheit schuld. Tom würde ihr niemals etwas Böses antun.
Niemals.
Als John auf den Parkplatz der Klinik von Winslow fuhr, staunte er, wie ein so kleines Gebäude das Selbstbewusstsein aufbrachte, sich als Krankenhaus zu bezeichnen. Eine solche Einrichtung konnte sich nur auf Grippeanfälle und verstauchte Fußknöchel spezialisiert haben. Für Leandro war es möglicherweise ein Glücksfall, da seine gebrochene Nase bestimmt genau die Herausforderung war, auf die man hier seit langem wartete.
John steuerte sofort das Münztelefon in der Eingangshalle an. Während er in der Hosentasche nach Kleingeld kramte, beobachtete er, wie Leandro sich dem Empfang näherte. Die Frau hinter dem Fenster blickte auf und erwartete zweifellos, ein Kind mit laufender Nase oder einen Mann mit Bierbauch und Schmerzen in der Brust zu sehen. Offenbar hatte sie nicht mit einem kahlköpfigen, fast zwei Meter großen Monstrum gerechnet, vor dessen Gesicht selbst der Teufel erschrocken wäre.
Leandro schob das Fenster auf, beugte sich hinein und sagte etwas zu der Frau. Ihr Unterkiefer klappte herunter, und sie riss die Augen weit auf. Wahrscheinlich hatte er ausgemalt, was ihr geschehen würde, falls sie beabsichtigte, ihn für längere Zeit in irgendein Wartezimmer abzuschieben.
Sie drehte sich um und rief etwas in ein Zimmer hinter dem Empfangsbereich. Eine Frau um die vierzig kam heraus. Sie hatte den abgestumpften Gesichtsausdruck älterer Mediziner, die neben einem amputierten Bein ihr Mittagessen verzehren konnten und niemals auf den Nachtisch verzichten würden. Doch als ihr Blick auf Leandros Visage fiel, zeigte sie tatsächlich so etwas wie eine betroffene Reaktion.
John warf ein paar Vierteldollar ins Münztelefon und sah zu, wie Leandro unverzüglich in einen Untersuchungsraum geführt wurde. Interessanterweise schien niemand von den Leuten im Wartezimmer die Neigung zu verspüren, sich beim Personal wegen der vorgezogenen Behandlung dieses Patienten zu beschweren.
John begann zu wählen, dann fiel ihm etwas ein. Es wäre ein Schuss ins Blaue, aber vielleicht war es möglich, Renee ausfindig zu machen, ohne sich mit der örtlichen Polizei herumärgern zu müssen. Es war zumindest einen Versuch wert.
Er wählte die Nummer seines Handys, das sich in seinem Wagen befand.
Es klingelte einmal. Zweimal. Dreimal. Nein, Renee wäre niemals so dumm ...
Klick.
»Hallo?«
Er konnte es nicht fassen. Sie war tatsächlich ans Telefon gegangen! Er schüttelte seine Überraschung ab und kam gleich zur Sache, indem er mit der gemeinsten Polizistenstimme sprach, die er zuwege brachte.
»Damit das klar ist, Schätzchen«, sagte er. »Ich habe meinen Wagen bereits als gestohlen gemeldet. Jeder Bulle in der Umgebung hat die Augen weit geöffnet und die Waffe gezogen. Und wenn meinen Kollegen bewusst ist, dass du sowieso auf der Flucht bist, werden sie nicht zweimal überlegen, ob sie ihre Waffe einsetzen. Hast du schon mal einen wütenden Polizisten gesehen, Renee? Ich meine, einen richtig wütenden? Es ist kein netter Anblick. Vor allem hier draußen mitten in der Wildnis, wo sie mit einem winzigen Budget auskommen müssen und ihre Streifenwagen nicht mit Videokameras ausgerüstet sind, die alles aufzeichnen, wie man es in diesen Polizeivideo-Sendungen im Fernsehen sieht. Ich meine, wer könnte anschließend behaupten, du hättest keinen Widerstand bei der Festnahme geleistet? Hast du verstanden, worauf ich hinauswill, Renee?«
Er wartete auf eine Reaktion. Er konnte hören, wie sie hektisch atmete, wie ein Teenager in einem Horrorstreifen kurz vor dem Messerstich.
»Ich habe deinen Wagen bereits abgestellt«, sagte sie schließlich mit erstickter Stimme. »Ich schwöre es.«
»Aber du trägst immer noch mein Handy mit dir herum, wie?«
Stille.
»Du bist eine notorische Lügnerin, Renee.«
»Nein! Wirklich! Ich bin nicht mehr mit deinem Wagen unterwegs! Ich werde dir sogar sagen, wo ich ihn abgestellt habe. Du kannst hingehen und ihn abholen. Er steht am Highway, einen oder zwei Kilometer hinter dem Diner, wenn du aus Richtung Winslow kommst. Da habe ich ihn abgestellt und die Schlüssel unter den linken Vorderreifen gelegt. Ich bin nicht mehr da. Ich bin jetzt ... woanders.«
»Das kaufe ich dir nicht ab.«
»Und weil ich dein Auto höchstens zwanzig oder dreißig Minuten benutzt und es dir sofort zurückgegeben habe, wirst du bestimmt nicht ...«
»Es ist schwerer Autodiebstahl! Das kannst du auf deine Liste setzen, direkt unter den bewaffneten Raubüberfall ...«
»Nein, ich habe es mir nur ausgeborgt!«
»Ausgeborgt?«
»Ja! Du hast mir praktisch den Schlüssel in die Hand gedrückt!«
»Ich soll dir ...?« John ging auf und ab, soweit es das Telefonkabel erlaubte, und gestikulierte wild. »Ich habe dir gar nichts gegeben!«
»Nun, du hast ihn mir nicht direkt gegeben, aber er lag ganz offen auf der Küchenanrichte, nicht wahr?«
»Und das gibt dir das Recht, einfach so meinen Wagen zu stehlen?«
»Auszuborgen«, korrigierte sie ihn. »Ich habe ihn mir nur geliehen.«
John war so verblüfft über diese verquere Logik, dass er am liebsten ihren Kopf gegen eine Wand geschlagen hätte. Sobald er sie zu fassen bekam, würde er der Welt einen großen Dienst erweisen. Er würde seine Finger um ihren Hals legen und ihrem unlogischen, durchtriebenen kleinen Gehirn die Blutzufuhr abschneiden. Dann würde sie nur noch vor sich hin vegetieren, ein hirnloses, harmloses Menschenwesen, das viel lächelte, hübsch anzusehen war und keine Autos klaute. Vor allem nicht sein Auto. Genau das würde er tun.
»Sag mir, wo du bist, Renee«, sprach er weiter. »Sofort. Wenn du es nicht tust, hetze ich dir sämtliche Polizisten, Sheriffs, Scharfschützen, Bluthunde und Einsatzkommandos im Umkreis von einhundert Kilometern auf den Hals. Hast du mich verstanden?«
Unvermittelt hörte John ein dumpfes Knacken, dann eine laut krächzende weiblichen Stimme.
»Willkommen bei McDonald‘s! Was möchten Sie bestellen?«
Ein Keuchen.
Ein Klicken.
John nahm den Telefonhörer vom Ohr und starrte ihn entgeistert an. Hatte er eben gehört, was er zu hören geglaubt hatte? Die Sprechanlage eines Drive-in-Restaurants? Hatte eine flüchtige, wegen mehrerer Verbrechen gesuchte Person nichts Besseres zu tun, als sich einen Big Mac zu besorgen?
John knallte den Hörer auf die Gabel und dachte hektisch nach. In der Zeit, die vergangen war, seit Renee sich mit seinem Auto davongemacht hatte, konnte sie keine Stadt außerhalb von Winslow erreicht haben. Wie viele McDonald‘s konnte es in einer niedlichen kleinen Stadt wie Winslow geben? Bestimmt nicht mehr als einen. Wenn er jetzt sofort die Polizei anrief, standen die Chancen nicht schlecht, dass sie gefasst wurde, bevor sie »Tomatenketchup« sagen konnte. Doch als er den Hörer erneut abhob, stach ihm etwas ins Auge - auf der gegenüberliegenden Straßenseite, vielleicht einen halben Block vom Krankenhaus entfernt.
Zwei goldene Bogen.